Nightrides: ein Drahtseilakt zwischen Legalität und Tabuthema

Nightrides sind für viele, die in den Wintermonaten von 8-5 im Büro sitzen die einzige Alternative, um unter der Woche den Adrenalinpegel in die Höhe zu treiben. Trails, die bei Tageslicht unattraktiv sind, gewinnen im kegelförmigen Schein einer Helmlampe an Charme. Das Gefühl von Geschwindigkeit, Exposition und der nicht einordbaren Geräuschkulisse versprühen einen Reiz, dem auch ich mich hin und wieder nicht entziehen kann.

Gemessen am Corona bedingten Bikeboom war der Anstieg möglicher Nightrides also absehbar – gerade, wenn zusätzlich zurzeit für viele die Möglichkeit entfällt, überschüssige Energie im Fitnessstudio abzubauen. Die Konsequenzen werden vielerorts diskutiert, wobei die Wünsche der Bike-Community auf die Argumente unterschiedlicher Interessenvertretungen treffen. Ich habe mich also in meinem Internet-Zimmer eingeschlossen und ein wenig recherchiert – wohlwissend, dass das Ergebnis dazu führen könnte, dass meine Helmlampe zukünftig als Spotlight für meine vertrockneten Zimmerpflanzen verwendet wird.

Die MTB-Community ist für die Wildschäden verantwortlich! Wohl eines der bekanntesten Argumente, wenn es um Nightrides geht. Aus meinen Gesprächen mit Rehen ging bis jetzt jedoch hervor, dass diese herzlich wenig über Fahrräder wissen. Damit will ich unsere Community nicht aus der Verantwortung nehmen, sondern verdeutlichen, dass man das Thema womöglich differenzierter betrachten sollte. Hier geht es nicht um die Beantwortung einer Schuldfrage. Ganz einfach deswegen nicht, weil sie beim Verständnis für das eigentlich Probleme unwichtig ist. Dass Jäger, Förster und MountainbikerInnen im Wald unterschiedliche Rollen und Verantwortungen haben, ist nichts Neues. Wichtig ist also, dass wir einander auf Augenhöhe begegnen, unabhängig davon, ob wir Halbschalenhelm oder Filzhut mit eingesteckter Feder tragen.

Die im MTB-Kontext relevanten Probleme beziehen sich meist auf den forstwirtschaftlichen Raum, wo Begriffe wie Schälungs- und Verbissschäden genannt werden. Bei den Schälungsschäden geht es um das Abnagen oder Abziehen der Rinde. Der Baum ist nackt und anfällig gegenüber der Kälte und Schädlingen, wodurch er und in Summe der Wald absterben kann. Beim Verbiss hingegen geht es um das Abnagen der Knospen. In einem Mischwald können Verbissschäden dazu führen, dass ganze Baumarten im Wald aussterben, einfach weil die Knospen bestimmter Baumarten dem Wild besser schmecken. Eine der Ursachen für ein solches Verhalten scheint übermäßiger Stress zu sein.

Prof. em. Dr. Paul Ingold setzt sich in seinem Buch Freizeitaktivitäten im Lebensraum der Alpentiere mit der Reaktion von Tieren auseinander, die sich einer stressigen Situation ausgesetzt sehen – nämlich Flucht. Wie intensiv diese ausfällt, hängt von bestimmten Faktoren ab:

  • Wo wir die Tiere antreffen (bestehende Wege vs. querfeldein)
  • Position zu den Tieren (oberhalb vs. unterhalb der Kopfhöhe der Tiere)
  • Bewegungsrichtung (auf das Tier zu vs. parallel zum Tier)
  • Lärm (laut vs. leise), Geschwindigkeit (schnell vs. langsam)
  • das Mitführen eines Hundes – egal ob angeleint oder nicht.

Versuche konnten nachweisen, dass sich die Fluchtstrecke von Gämsen mehr als verdoppelt, wenn sie auf BergläuferInnen oder MountainbikerInnen treffen im Gegensatz zu wandernden Personen. Die Reaktion hängt davon ab, inwieweit wir diese Faktoren triggern und eine Flucht provozieren – ob wird dabei auf dem Rad sitzen oder topfschlagend durchs Unterholz laufen, wird den Tieren ziemlich egal sein.

Wer den ganzen Tag flüchtet, verbrennt Energie, welche in Form von Futter wieder aufgenommen werden muss. Doch was ist im Winter und in der Dämmerung anders, was auf einmal alle zusammenzucken und die Mistgabeln zücken lässt, wenn das Wort Nightride fällt? Das Problem im Winter ist, dass alternative Futterquellen kaum vorhanden sind. Auch ich würde dann eher die Rinde des nächstbesten Baumes abnagen, bevor ich stundenlang durchs Unterholz marschiere, um das letzte grüne Blatt zu finden.

Das Wild ist in den Wintermonaten dazu gezwungen, das doppelte an Energie aufzubringen, da sie mit der wenigen Nahrung ihre Körpertemperatur trotz allem aufrechterhalten müssen. Es haben sich die Arten evolutionär durchgesetzt und angepasst, die in der Kälte mit dem geringen Nahrungsangebot am besten zurechtkamen. Jegliche Form von Stress, ob das der hohe Jagddruck oder MountainbikerInnen sind, kann dazu führen, dass das Tier flüchtet. Und Flucht bedeutet immer auch wieder die Suche nach neuer Nahrung – ein Kreislauf, der Wildschäden und im schlimmsten Fall den Tod eines erschöpften Wildtieres zur Folge hat.

Auch Jasper Jauch und Tobias Woggon haben sich in ihrem Podcast Single Trails und Single Malt mit dem Thema Nightrides auseinandergesetzt (Folge 83). Man würde ja im Winter keine anderen Trails fahren als im Sommer. Selbst bei Begegnungen mit Rehen, würden diese lediglich müde den Kopf heben. Welches Reh würde sich also seinen Schlafplatz direkt neben einem Trail suchen? Am Ende plädierte Jasper gegen die Bevormundung von Rehen.

Richtig, denke ich mir. Wenn ich einem Reh begegne, bin immer ich der Aufgeregte, während mein Gegenüber mich keines Blickes würdigt. Ich lege Jasper also einfach mal die Frage in den Mund, ob sich Wild nicht an die BikerInnen gewöhnen kann oder ob es das nicht schon hat?

Wild kann sich tatsächlich an Reize gewöhnen. Allerdings ist eine Gewöhnung immer nur bis zu einem gewissen Grad möglich und auch von Art zu Art verschieden. Am ehesten funktioniere das bei festgelegten Trails. Und auch nur dann, wenn die Reize wenig variierten. Ähnlich wie bei uns: an Meeresrauschen können wir uns gewöhnen, wenn dann noch Schiffshörner und besoffene Touris von allen Seiten hinzukommen, wird es auch für uns schwierig, die Fassung zu wahren. Und da der Wald für alle ist, ist das mit der Gewöhnung nicht so einfach.

Ich will noch einen weiteren Punkt aufgreifen, der das Night in Nightrides ausmacht: die Nacht bzw. die Dämmerung. Blöderweise kollidieren unsere Bürozeiten häufig mit den Essgewohnheiten der Tiere, die sich im Schutz des schwächer werdenden Lichts auf Nahrungssuche begeben. Aktive Tiere auf Nahrungssuche neigten zu starken Fluchtreaktionen. Im Winter bedeutet das also, dass dann gegessen wird, wenn wir unsere Bürostühle unter den Tisch schieben und den On-Schalter der Helmflutlichtanlage umlegen.

Ob Sommer oder Winter, wer sich im Wald nicht rücksichtsvoll verhält, erhöht den Stress auf die im Wald lebenden Tiere. Was im Sommer vielleicht nicht zu sehr auffällt, weil genug Futterquellen vorhanden sind, wird im Winter zum Problem, wenn eben jene erschöpft sind. Die Problematik Nightrides ist also eher eine Überschrift für ein Thema, das unser Verhalten im Wald reflektieren soll und wenn wir als BikerInnen uns als Teil der WaldnutzerInnen sehen, dürfen wir auch so einer Frage nicht aus dem Weg gehen. Ich für meinen Teil werde zukünftig wohl weniger Nightrides machen und stattdessen mit mehreren tausend Lumen am Kopf der Frage auf den Grund gehen, warum mir ständig alle Zimmerpflanzen eingehen.

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