Assuetudo
Gedankenverloren öffne ich das Fenster in Richtung der großen Kreuzung, welche sich keine 10 Meter unter meinem Zimmer im ersten Stock befindet. Zu den Stoßzeiten trifft sich hier gefühlt die ganze Welt und dennoch scheint jeder seiner eigenen Tristesse zu erliegen. Das Bild entnervter Autofahrer ist wohl in allen Städten dasselbe. Ich für meinen Teil nehme lediglich das Hupen derer wahr, die ihren Unmut über die Fahrkünste des Nachbarn Ausdruck verleihen wollen.
Einmal angefangen, so kommt es mir vor, sinkt die Hemmschwelle aller und ein hupender Chor schaukelt sich auf.
Komisch, wie sich das menschliche Gehör an solche Umstände gewöhnen kann. Noch vor einigen Jahren habe ich zuhause in einer ruhigen Einfamilienhaussiedlung am Rand von Hamburg gewohnt. Das Lauteste, was ich von hier kannte, waren vermutlich die Rasensprenger des Nachbarn.
Die Ansprüche von Studenten, in Bezug auf deren Wohnsituationen, sind bekanntlich nicht die höchsten, denn anders kann ich es mir nicht erklären, mit offenem Fenster vor so einer Geräuschkulisse zu schlafen. Man nimmt es wohl irgendwann nicht mehr wahr. Manchmal nur, wenn Bekannte da sind, wird am nächsten Morgen gefragt: Wie man bei diesem Lärm Schlafen könne?
Erst wenn man dieser vertrauten Kulisse entflieht, wird einem bewusst, dass es doch auch anders geht. Es sind Semesterferien und noch vor einem Monat lag ich abends auf einem Hausboot etwas außerhalb von Amsterdam. Dort war es der Wellengang, der mich in den Schlaf gewiegt hat und anstelle von Hupen und Sirenen, war es Vogelgezwitscher und das gleichmäßige Schwappen des Wassers, welches gegen die Bootswand plätschert, was mich einschlafen ließ. Ländliche Luft und das Kreischen der Möwen läuteten wiederum den nächsten Tag ein und vereinzelt trafen mich Sonnenstrahlen, welche sich ihren Weg durch die staubigen Bullaugen bahnten. Der Geruch des Wassers vermischte sich mit dem der Pflanzenwelt. Es roch süßlich und geblendet von der frühmorgendlichen Sonne ging ich an Deck, um festzustellen, dass die sonst allgegenwärtige Hektik verschwunden ist. Auch wenn ich vermutlich weniger geschlafen habe, fühlte ich mich erholter. Auf dem Wasser schien alles langsamer dahinzugleiten – keine sich streitenden Autofahrer, nur Kapitäne, die sich ihre Ruhe nicht nehmen ließen. Ich glaube, in dieser Woche war ich so entspannt wie nie zuvor. Gedanken an das geschäftige Treiben unter meinem Fenster verliere ich keine.
Egal wohin es einen treibt, es sind Kleinigkeiten, die man zuhause unbemerkt adaptiert und mit denen man auszukommen lernt – obwohl es anders sein sollte.
Ich schaue immer noch auf die Kreuzung, die einem Ameisenhaufen gleicht, weiß jedoch nicht, ob ich heute lieber mit offenem oder geschlossenem Fenster schlafen sollte.
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